Carnevale, Casanova & Dolce Vita
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Spielcasinos, ein halbes Jahr Karneval, anonymes Maskentragen und weit
über 10.000 käufliche Damen schufen eine Atmosphäre der Dekadenz, welche
im 18. und letzten Jahrhundert der Seerepublik die
vergnügungssüchtige Oberschicht Europas erotisch anzog - wortwörtlich.
Die verarmte einstige Handelsmetropole hatte sich so als das
Las Vegas Europas neu erfunden.
Hinweis: Um diese hier verwendete Headline auch sauber abzuklären: Wir verwenden "dolce vita" hier im gebräuchlichen deutschen Wortsinne ("süßes Leben"), um das wilde Leben im 18. Jahrhundert und NICHT im italienischen Sprachgebrauch, wo nämlich dolce vita eher für die prosperierende Nachkriegszeit der 1950er-Jahre steht.
Der Gemäldeausschnitt stammt vom Rokoko-Maler Pietro Longhi ( 1701 - 1785 ).
Die Szene spielt im Ridotto (wörtlich Häuschen, Verkleinerung von Casino),
einem Art Vergnügungssalon. Vorne umschmeichelt ein maskierter Mann eine
junge Frau, bereits mit der Hand an ihrem Rock. Im Hintergrund links wird
am Tisch Karten gespielt - um Geld, und zwar um viel Geld. Leidenschaft für's
Glücksspiel galt bei wohlhabenden Venezianern eher als eine getleman-like
Tugend (der gentile uomo) denn als etwas Fragwürdiges. Wer hier übrigens Maske trug und wer nicht,
war zum Teil genau vorgeschrieben, und machte klar, wer welche Rolle spielt und
welchen Stand hat. Generell war das Tragen der durchaus verschiedenen Maskentypen
in Venedig jahreszeitenweise völlig normal. Es ermöglichte vielen Menschen
zu Nachtzeiten ein anonymes Doppelleben zu führen. Und das nicht nur Männern
oder Kurtisanen, sondern sogar Nonnen heimliche Ausflüge ins umfangreiche
Nachtleben Venedigs ermöglichte. Casanova liebte gleichzeitig zwei Nonnen,
als C.C. und M.M. bekannt. Da sehr viele, oft wohlhabende Töchter der
Inselstadt unfreiwillig in Klöstern abgeschoben wurden (statt sie zu verheiraten),
suchten diese sich Liebhaber, nicht nur Priester oder Äbte, sondern auch
wohlhabende Adelige oder ausländische Diplomaten. Im alten Venedig war da
recht viel möglich. Zahlreiche Memoiren und kirchliche Beschwerdekorrespondenzen
haben das für uns festgehalten.
Wir spüren bei dieser Tour der "Traumzeit Venedigs" nach,
als sich kurz vor 1800, dem Untergang der Republik,
die Lagunenmetropole nochmals grandios selbst inszenierte.
Auf der Suche nach einem neuen "Geschäftsmodell" hatte sich im Settecento
die abgestiegene einstige Seemacht und Handelsmetropole Venedig
zu einem Art Eldorado für Adel und Bürgertum Europas verwandelt.
Venedig war übrigens so zu einer Keimzelle des modernen Tourismus
in Europa geworden. So soll sich zu Zeiten des Karnevals die
Bewohnerzahl Venedigs verdoppelt haben.
Schließlich konnte man in der Lagune neben
einer einmaligen architektonischen Kulisse
auch noch die entsprechend frivole Atmosphäre anbieten, wie sie
weder im protestantischen noch katholischen Europa sonst denkbar war.
Bei dieser Führung reden wir über Hasardeure, Huren und
Kurtisanen, die sich zusammen mit der High Society Europas damals
in Venedig ein regelmäßiges Stelldichein gaben.
Schon um 1600 war endgültig klar geworden, das die einst das
Mittelmeer kontrollierende Seemacht gegenüber den Weltumseglern
Portugal, Spanien oder Holland zu einem Kleinstaat abgestiegen war.
Kurzum: Die Serenissima brauchte also neue Geldquellen und
erfand sich noch einmal neu. Um 1700 herum führte das neue Geschäftsmodell
zu einer letzten großen Blüte:
Aus Handelskontoren wurden Bordelle, aus verarmte Patriziern wurden Croupiers in Spielcasinos und der Karneval wurde mit winzigen Unterbrechungen vom Oktober bis ins Frühjahr noch nach Ostern gefeiert. Das Geld brachte jetzt nicht mehr der Fernhandel über's Meer, sondern der aus ganz Europa anreisende Adel plus Burgeoisie / Bürgertum. Venedig mauserte sich so zum Vergnügungszentrum des Ancien Regime im alten Europa. In einer dekadenten Stimmung feierte die untergehende Republik im 18. Jahrhundert ihr "Fin de siècle à Venise", das dann schließlich von Napoleon 1797 fast termingerecht beendet wurde.
Die Urenkel früherer Handelsherren waren zu Betreibern von Spielsalons,
Opernhäusern und Theatern geworden. Die fantasieloseren unter ihnen
entwickelten sich innerhalb weniger Generationen von risikofreudigen
Handelsherren zu behäbigen Großgrundbesitzern auf der Terra ferma,
dem Festland gegenüber. Nur - sieht es heute bei uns so viel anders aus,
wo oft der "richtige" Immobilienbesitz über den Status in der Gesellschaft
entscheidet?
Warum eigentlich konnte sich Venedig zur sexuell freizügigsten Metropole Europas entwickeln? Die tiefere Erklärung liegt im uralten Konflikt zwischen der Republik Venedig und dem römisch-katholischen Papst. Außerhalb von Venedig waren in ganz Europa Fürsten und Kirche auf Augenhöhe und hatten sich überall darauf geeinigt: Die Fürsten hatten die politische Macht, während die Kirchenoberen für die Durchsetzung ihrer sittenstrenge Moral sorgten. Nicht so in Venedig. Kein Doge akzeptierte irgendeinen Erzbischof oder Kardinal auf Augenhöhe, sondern betrachtete ihn lediglich als Statthalter des Papstes und der Papst regierte den für Venedig feindlich gesinnten, benachbarten Kirchenstaat. Also durfte kein Bischof irgendein politisches Amt in Venedig bekleiden oder Pfarrer einsetzen. Nein, Pfarrer wurden von ihrer Kirchengemeinde gewählt, kein Vertreter des Vatikan hatte darauf Einfluss. Gibt es das heute noch irgendwo im katholischen Europa? ( Ja - bei den Protestanten, aber die entwickelten sich trotzdem nicht minder prüde und "sittenstreng" ... )
Ergebnis: Moral bestimmte in Venedig keine Kirche, sondern die adelige Elite. Und diese bestand aus reichen Männern und ihren nicht minder reichen adeligen Ehefrauen, denen es erst mal darum ging: Geld sollte sich natürlich nur mit anderem Geld verheiraten. Aber darüber hinaus? Warum sollte man sich die Freiheit zu freier Liebe & Erotik nehmen lassen?
Insbesondere der Karneval veneziana bot da jede Menge Vergnügungspotenzial. Um an gut betuchten, sprich reichen Besuchern Venedigs auch wirklich gut zu verdienen, unterbrach Venedig den Karneval lediglich für die Weihnachtsfeiertage oder die Karwoche. Der Venedigbesucher Goethe beschrieb die Anteilnahme der Venezianer am Karneval als "ein Fest, das dem Volk nicht gegeben wird, sondern das sich das Volk selbst gibt." Der Karneval Venedigs erschien dem Freiherrn Goethe "als Zeichen, daß jeder so töricht und toll sein dürfe, als er wolle."
Ein besonders extravaganter Vertreter der venezianischen Kultur war im 18. Jahrhundert Giacomo Casanova. Sein Nachruf als Womenizer verdeckt heute leider den Blick auf den aus heutiger Sicht viel interessanteren Tausendsassa und hochgebildeten Europäer. Philippe Monnier charakterisiert den noch nicht mal 20jährigen als "hemmungslosen, unheimlich geistreichen, geschmeidigen, geschwätzigen und feurigen Burschen, der sich von allen Gewissensbissen freizumachen wusste."
Die Dame im Mittelpunkt des obigen Bildes könnte durchaus die vom Venezianer Casanova geliebte Nonne M.M. darstellen. Dieser beschreibt in seinen Memoiren, wie er sie nachts per verschwiegener Taxi-Gondel aus einem Kloster holen ließ und sich seine Geliebte "perfekt maskiert" äußerst geschickt durch die Spielcasinos bewegte und mit seinem Geld spielte. Warum sie da Übung hatte und speziell viele der venezianischen Nonnen im alten Venedig sich bestens in "vornehmen Kreisen" auskannten, darüber sprechen wir bei dieser Führung.
Das Phar(a)o-Spiel war venezianischen Ursprungs und hatte sich im 18. Jahrhundert in
ganz Europa ausgebreitet (siehe Spieltisch im Bild oben). Es war
auch als "Hasard-Spiel" verrufen, bei dem die Gewinnchancen zwar hoch,
das Betrügen jedoch leicht war, darum spielte es auch nur der
sprichwörtliche "Hasardeur".
Glücksspiel mit hohen Geldeinsätzen war im alten Venedig
mindestens genauso gesellschaftlich anerkannt wie heute Golf oder
Karten spielen. Und es galt überhaupt nicht als unehrenhaft, dabei
vielleicht das gesamte Familienvermögen zu verspielen; ein berühmtes
Gemälde zeigt ein junges Paar, das gerade seine ganze Erbschaft verspielt hat.
In einem Art Sozialprogramm der Republik wurden solcher Art verarmte adelige
Männer als Croupiers in den Casinos beschäftigt - samt
lebenslangem Spielverbot. Das war einer der sozialen Züge des
hoch entwickelten Staatskapitalismus der Republik Venedig, der einst
reichsten Stadt Europas, die von einer sehr kaufmännisch
orientierten Adelsklasse regiert wurde.
....
Das Wort „Casino“ bedeutet eigentlich nur „kleines Haus“
(auch Gartenhaus). In einem Casino wurde u.a. dem Glücksspiel
gefrönt. Der damals kaum bekannte
Giacomo Casanova wohnte zeitweise in einem
von seinem Gönner ihm überlassenen
Casino. Schauen wir bei dieser Führung, wo.
Viel bedeutender als die Casini waren jedoch im dicht bebauten
venezianischen Zentrum von San Marco die sogenannten
ridotti. Ein "Ridotto" - wörtlich "Palazzo reduto" - war
also ein "reduziertes", noch kleineres Häuschen.
Davon gab es einst bis zu einhundert, wo man sich
zu allen möglichen Lustbarkeiten zwischen erotischem
und Glücksspiel in San Marco einfand.
Bei all dem Vergnügen soll aber auch auf die dunkle Seite
der Serenissima in ihrer Endphase hingewiesen
werden: So hatte sich die venezianische Republik
zu einem Polizeistaat entwickelt, nicht unähnlich
viele anderen Staaten Europas, wo absolutistische
Herrscher quasi wie Diktatoren herrschten. Nur dass
es in Venedig nicht etwa der weitgehend entmachtete
Doge gewesen wäre, sondern ein staatliches Gremium,
der "Rat der Zehn". So hatte
man in der Republik Venedig des Mittelalters nach
einem verhinderten Staatsstreich
eine staatliche Inquisition installiert. Deren Macht
wuchs dann immer mehr, als man in späteren Jahrhunderten
fürchtete, Agenten ausländischer Großmächte könnten
im Bündnis mit untreu gewordenen venezianischen Söldnern
den geschrumpften venzianischen Kleinstaat von innen
handstreichartig übernehmen. Der "Rat der Zehn" agierte
quasi als Stasi der Republik Venedig und unterhielt
dafür ein umfangreiches Netz an Spitzeln unter der
eigenen Bevölkerung mit zahllosen "inoffiziellen Mitarbeitern".
Ironischerweise verdingte sich auch ein Opfer dieser
Staatsinquisition namens Giacomo Casanova zeitweise als ein
solcher Spitzel als er gerade wieder mal Geld brauchte - oft
wegen seiner Spielleidenschaft - und lauschte den Gesprächen
in Salons, Casini und Ridotti, ob sich dort irgendetwas um
politische Themen drehen könnte und wo denn persönliche Laster,
Vorlieben und Schwachpunkte einzelner Promis erkennbar wurden.
Nicht nur Stasi-, Gestapo- und KGB-Leute hätten heute noch
beim Studium der Akten des "Rates der Zehn" sicherlich
ihre Freude - denn diese sind überwiegend erhalten.
Das Venedig Casanovas war also im 18. Jahrhundert tatsächlich so extrem wie das Leben des legendären Verführers selbst, der allerdings über viel mehr an Talenten und Fertigkeiten verfügte, als uns die frühen Übersetzungen ins Deutsche mit ihrer einseitigen Beschränkung auf die erotischen Anteile weiß machen wollen. Der 1725 in Venedig geborene Casanova ist vielmehr ein unbefangener und ehrlicher Zeuge dieses 18. Jahrhunderts. In seinen Memoiren gibt er eine recht lebensnahe Beschreibung der Zustände in einer Stadt, wo reicher und verarmter Adel gemeinsam mit der unteren Klasse sorglos dem Untergang entgegen feierten, großzügig finanziert von den Reichen des übrigen Europa. Casanova wurde wegen seiner losen Zunge alleine in Venedig zwei Mal inhaftiert, konnte aber auch zwei Mal ins Exil fliehen, so dass er sein halbes Leben durch Europa vagabundierte und auch im Exil verstarb. Der vielseitig talentierte Sohn eines Schauspielerpaares kam von unten, verdiente zeitweise sein Geld im Vergnügungsbetrieb, rettete einem hochrangigen Patrizier und Senatsmitglied das Leben und konnte so mit dem Geld diese Gönners am freizügigen Lotterleben dieser schillerndsten Epoche Venedigs teilnehmen. Er verdankte das nicht nur seinem Glück, sondern in hohem Maße seinem Geschick sowie seiner hohen Intelligenz und Bildung. Dem stand zweifellos sein draufgängerisches und rebellisches Verhalten gegenüber und irgendwann ihm auch im Wege. Seine zahlreichen Amouren ergaben sich so nebenbei und gehörten zur Erfüllung seines Lebensziels maximalen Genuss zu erlangen. Schließlich war alles andere als ein Asket oder Puritaner, sondern ein typischer Venezianer und gelernter katholischer Priester.
Bei dieser Führung klären wir auch, warum gerade im damaligen Venedig
auch Nonnen in Frauenklöstern einem Liebesleben frönen konnten und sogar
in gewisser Weise mit der gigantischen gewerblichen Prostitution
konkurrierten. Ähnlich wie der Priester Giacomo Casanova hatten die
Novizinnen ja nur Ehelosigkeit gelobt, aber nicht unbedingt Keuschheit.
Und wir reden darüber,
warum Casanova gerne auf ihre Liebesdienste zurückgriff. Denn Nonnen hatten
den enormen Vorteil, dass er ihnen keine Ehe in Aussicht stellen
musste, um sie ins Bett zu bekommen. Sich hingegen an adeligen Damen
als Womenizer zu versuchen, war für einen Mann aus der unteren Klasse -
wie Casanova - damals ähnlich gefährlich wie sich an verheirateten Frauen
zu vergreifen. Da konnte nicht nur schnell ein Duell drohen.
Beim einem Duell per Pistolen - und tatsächlich mit (oder eher
gegen) einen polnischen Adeligen ging es in Polen natürlich um eine schöne Frau.
Dabei werden beide, Casanova und sein Gegner, schwer verletzt,
aber mit Glück überleben beide und ohne bleibende Behinderungen.
Wir wissen das alles einigermaßen genau, da nicht nur Casanova
sehr vieles aus seinem Leben aufgeschrieben hat, sondern auch viele
seiner Gesprächspartner in ganz Europa. Und anders als bei
vielen anderen damaligen Selbstdarstellern - Casanova war zweifellos
ein talentierter - konnten ihm die Historiker keine größeren
Fake News nachweisen. Bei "Kleinigkeiten" seiner Biografie wie z.B. den
näheren Umständen seiner sensationellen Flucht aus den Bleikammern des
Dogenpalastes spricht allerdings vieles gegen seine Darstellung - inklusive
der simplen Wahrscheinlichkeit. Aber die unzweifelhafte Tatsache, dass er
als einziger Gefangener jemals aus dem Kerker des Dogenpalastes
entkommen konnte, sollte ausreichen, um ihn in ganz Europa "weltberühmt"
zu machen.
Wie es vielleicht bei seiner Flucht etwas anders und viel einfacher
zugegangen sein könnte als in Casanovas dramatischer Darstellung,
darüber reden wir bei dieser Führung.
...
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